die Geschichte des Kollabs

1.
eigene und für die eigenen Lebensverhältnisse bestimmende politisch – räumliche Ortsbestimmung zu Beginn der neunziger Jahre


Es war Mitte der Neunziger Jahre. Wir lebten in einer norddeutschen Universitätsstadt mit Hundert Tausend Einwohnern. Es war eine Zeit des Umbruchs. Die alternativen Milieus waren in der Auflösung begriffen, unsere Wissenschaften, die Sozialwissenschaften, liefen immer deutlicher irgendwelchen abwegigen Tagesthemen hinterher - anstatt sich mit den grundlegenden Strukturen dieser Gesellschaft zu beschäftigen.. Die letzte Hausbesetzung - die diesen Namen wirklich verdiente - lag schon vier Jahre zurück und wir gründeten eine Theoriegruppe. Ein paar von uns lebten in einer Wohngemeinschaft Namens Versuchsstall, ein paar hatten sichs in ihrer Zweizimmerwohnung „in zentraler Lage“ bequem gemacht, ein paar wohnten eher am Stadtrand mit Kommilitonen in kleineren Wohnungen.

2.
die erste allgemeine Beschreibung unseres akademischen Milieus

Der letzte große Unistreik lag bereits sieben Jahre zurück. Die Dozenten hatten sich als die Vorbilder bewährt, die sie als Lebenszeitbeamte mit Parteibuch sein mußten: Pflichtbewußte Beamte, die die studententypischen Äußerungs- und Sozialformen vorzugsweise als zu Brechende und zu Erziehende wahrnahmen. In der Masse der Studierenden hatte sich die Karrierementalität der 89 ger durchgesetzt. Die Erziehung in den Orientierungsphasen hin zu einer Beschränkung auf nur eine Fachkultur und deren Absicherung in diversen Zuordnungen des städtischen Umfelds taten ein Übriges. Hatte es noch im Irakkrieg 1991 übergreifende Solidaritätszusammenhänge gegeben, so waren diese in den folgenden paar Jahren weitgehend aufgegeben worden. Die Vermittlungsebenen in den theoretischen Auseinandersetzungen in den studentischen Milieus (nicht nur) der sozialwissenschaftlichen Fakultät bewegten sich weit über den Köpfen der normalen Studierenden. Gleichzeitig spielte sich aber vor unser aller Augen der Normalbetrieb ab: Seminare, die fast nie ihre Funktion für die uns umgebende kapitalistische Gesellschaft mitdachten, Professoren, die absolute didaktische Nullen waren und ein allgegenwärtiger Kampf um die besten Räume und Plätze.

3.
die eigene Gruppe: Grobstruktur, erste Eingebundenheiten: der AK Anarchismus

Wir waren eine Gruppe, die etwa zehn Personen umfasste. Wir hatten verschiedene Dinge gemeinsam, in erster Linie ähnliche sozialwissenschaftliche Studienfächer. Wir waren überwiegend grün – alternativ eingestellt, was damals eine gewisse Bodenständigkeit in der persönlichen Lebensführung, ökologische Ernährung und ein paar grundlegende Einsichten in die Einflüsse der Umwelt auf unser Leben und unsere Zukunft beinhaltete. Wir waren auseinandersetzungsfreudig, dabei aber auch diesseitig: Fragen der alternativen Lebensorganisation waren oft auch solche nach dem Geld für das tägliche Überleben, Fragen der langfristigen Orientierungen der eigenen Moral stellten sich eher pragmatisch und mit dem Grundsatz, die und den Anderen in seinen Bedingtheiten zu achten. Wir waren zwar keine Weltverbesserer, hatten aber schon auch Vorstellungen von einem besseren Leben - und vor allem kannten wir Leute, die es versucht hatten.

Im Herbst 1993 gründeten wir den Arbeitskreis Anarchismus. Wir lasen Horst Stowasser und seine Erfahrungsberichte vom anarchistischen Projekt A in Neustadt an der Weinstraße, trafen uns abends in Szenekneipen zum Billardspielen oder Krökeln. Am Wochenende fuhren wir meist in die Papiermühle, einem ehemaligen Landgasthaus, welches zu einer Alternativdisko umgebaut worden war.

In gewisser Weise waren wir alle nicht so stromlinienförmig wie der durchschnittliche Göttinger Student und sein weibliches Pendant: sei es, daß unsere Eltern sehr reich oder ganz arm waren, sei es, daß wir von sehr weit her stammten: die in Göttingen vorherrschende bürgerliche Behäbigkeit der ländlichen Mittel- und Oberschichten und die ihnen gemäße Dressur zu angepassten Betriebswirten, Diplomlandwirten oder Juristen waren uns sehr fremd. Leute, für die das Wort Kapitalismus eine Erfindung gleichmacherischer Sozialisten war, standen für uns „am anderen Ufer“, konnten sie doch meist auch keine Erklärungen über die Systembedingtheit uns berührender Ereignisse der Großen Politik wie Kriege oder Währungszusammenbrüche bieten. Und wir fühlten uns im Recht. Hatten doch gute Freunde von uns in einer aufwendigen Studie festgestellt, daß unsere Studiengänge, die Sozialwissenschaften, gerade nicht zu einer konkreten Berufsqualifikation führten, sondern nur „allgemeine Fähigkeiten des Umgangs“ mit wissenschaftlichen Arbeitsweisen ermöglichen sollten und damit auch das schnellere Sich-zurecht-finden im Dschungel von Institutionen und Verbänden. Wir suchten also nach einer gewissen Erdung unserer abgehobenen Verhältnisse, sei es im Aufgreifen der Seminare, die die meiste Welterklärung versprachen, sei es nur auf der Ebene des Austauschs über alternative Lebensweisen oder noch direkter des gemeinsamen Trinkens und Krökelns in der Szenekneipe.

4.
die Ausgangslage vor der Besetzung, die Besetzung selbst und unsere Motive

die Besetzung
Es war zu Ende der vorlesungsfreien Zeit zwischen Winter- und Sommersemester, als wir bemerkten, daß der kleine Seminarraum leerstand, der bis dato die Computerübungsplätze beherbergt hatte. Das stach uns natürlich ins Auge: zu vermitteln hatten wir immer viel, dazu war die Praxis der Göttinger Sozialwissenschaften viel zu weit weg von dem, was wir unter Gesellschaft verstanden und ein leerer Raum, von dem studentische messages hätten ausgehen können, bildete natürlich eine große Versuchung. Wir wurden auch das Gefühl nicht los, daß es sehr viele leerstehende Räume gab; Jahre später zählte mal einer von uns die Raumauslastung nach und kam zu dem Ergebnis, daß zweihundert Semesterwochenstunden mehr in den zentral gelegenen Seminarräumen möglich gewesen wären, hätte man nur die Zeiten vernünftiger ausgenutzt.

So entschlossen wir uns, hier erstmal zu übernachten, den Raum zu besetzen. Versuchsweise halt, sehen, was sich entwickeln würde. Wir wollten auch ein Zeichen setzen, die Göttinger Uni, deren Erziehungsmodell und seine räumliche Gestaltung noch aus den wilden sechziger Jahren stammte – die Fenster der meisten Seminarräume in Hochparterre und ersten Stock ließen sich aus Sicherheitsgründen nicht richtig öffnen, waren also noch nicht einmal zum Lüften geeignet – sollte mit einem Zeichen studentischer Selbstbewußtwerdung konfrontiert werden. Der Spruch‚ „unter den Talaren der Duft von tausend Jahren“ ließ sich hier noch ganz direkt und täglich verifizieren und wir wollten endlich einmal richtig lüften können! - Wie in den Göttinger studentischen Milieus üblich, waren auch von uns mehrere auf Dörfern aufgewachsen, wußten also gute Luft durchaus zu schätzen und der Vergleich mit benachbarten Universitätsstandorten, in denen man „natürlich“ die Fenster richtig öffnen konnte, tat ein Übriges. Wir wollten uns einfach nicht weiter von den professoralen Bürgern von Schilda verschaukeln lassen, die bekanntermaßen den Einbau von Fenstern „vergessen“ hatten. Wir nannten den Raum Kollabs, was soviel bedeuten sollte wie „Kommunikationslabor“.

5.
Rolle und Funktion des Studentenwerks

„Negativer Pate“ für die Besetzung war auch die "heimliche Herrschaft" des Göttinger Studentenwerks, das als Unternehmen zahlreiche Bereiche studentischen Kulturlebens einer "Inwertsetzung" unterzogen hatte, die bewirkte, daß die Aufhebung der Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Räumen erschwert wurde. Das Studentenwerk besaß als landeseigenes Unternehmen bei der Ausstattung der Universität mit Cafeterien, Sozialräumen und anderen "öffentlichen Räumen" ein "erstes Recht". Wir wußten aber, daß die Göttinger Erziehungsideale auch vor dem Studentenwerk nicht haltgemacht hatten – soll heißen, daß private Initiativen schon aus Prinzip bekämpft werden mußten.

6.
die institutionellen Eingebundenheiten der Besetzung
... und die Reaktionen

Das Wir, das ich oben schon kurz beschrieb, muß jetzt ein wenig in die damaligen Gruppenzusammenhänge gestellt werden. Das erhellt das Verständnis für die Spannungen, in denen wir damals in der ersten Zeit der Besetzung standen - und hier geht es erstmal um das Aufzeigen unserer direkten „Gegner“. Kontrahenden waren nämlich zuvörderst die Hausmeister und Sicherheitsleute, die für das Gebäude verantwortlich waren, bezeichnenderweise waren das nie Frauen. Natürlich hatten die viel Erfahrung im Umgang mit Studierenden – aber auch wir älteren (zumindest) konnten uns in deren Situation recht gut hineinversetzen. Da wir durchaus friedlich waren und anboten, die Seminare, die hier mit Beginn des neuen Semesters stattfinden sollten, auch in dem besetzem Raum zuzulassen, wenn sich kein anderer fand, gab es von dieser Seite zumindest zu Anfang wenig Widerstand. Schwieriger schon war die Reaktion der Lehrenden einzuschätzen, hatte doch einer der bekannteren Politikprofessoren noch ein paar Jahre zuvor die Polizei zur Hilfe gerufen, als das Gebäude - auch damals – friedlich besetzt worden war. Aber auch von dieser Seite gab es überraschenderweise erstaunlich wenig Reaktionen.

die Eingebundenheiten unter den Kommilitonen
Und unsere Kommilitonen? Insofern sie uns einzeln oder als ungebundene Kleingruppen besuchten, waren die Reaktionen überwiegend neugierig bis positiv. Traten sie als Gruppenvertreter auf, hatten sie meist auch gewisse Ansprüche, die mehr oder weniger offen artikuliert wurden. - Bei uns gab es ein paar Grundkonsense, die wir nicht nur plakativ an die Wände malten, sondern auch verinnerlicht hatten: wir wollten keinen Sexismus und Rassismus, keine Nazis und patriarchalen Dominanzformen – und keinen Geschichtsrevisionismus. Und wir wollten mehr Reflektion auf die Verhältnisse, die unser Leben bestimmten!

Die Parole „harte Zeiten erfordern starke Basisgruppen“ besaß noch eine reale Bedeutung insofern, als das die spontanen Zusammenschlüsse, die sich Basisgruppen nannten, meist auch die eben genannten Grundkonsense beherzigten. Man wußte, warum man „links“ war, im Gegensatz zu unseren meist etwas dümmlichen Wirtschafts“wissenschafts“studenten. Das gerade in diesen Jahren auch ein dogmatisch vertretener Normalitätsbegriff in bewußter Abgrenzung zu unseren Selbstverständlichkeiten initiiert und entwickelt wurde, war uns zwar aufgefallen – aber als (noch) relativ ungefährlich in die zweite Reihe der zu bewältigenden Alltagsprobleme gestellt. Die 89 ger Generation mit ihrem sozialdarwinistischem und rückratslosem Pragmatismus zeigte zwar schon Wirkung, wurde aber erst später „entdeckt“ und bestimmt heute weitgehend das kulturelle Geschehen.

7.
stärker politisch akzentuierte eigene und der Umgebung Ortsbestimmung

Aber es sollen auch nicht die Unterschiede verschwiegen werden, die sich im Kollabs so ziemlich vom ersten Tag an auftaten: Die „Aktiven“ besaßen ziemlich klare Vorstellungen von dem, was damals „pc“ genannt wurde, „political correctness“, zu gut englisch. PC war eine Chiffre, die sich ganz überwiegend auf den Umgang mit den unterschiedlichen Geschlechtsrollen bezog und hier ein paar Grundweisheiten beherzigte: Das Männer ein raumgreifendes Körperverhalten besitzen, wußten wir seit Cheryl Benards Buch zum „gewöhnlichen Mann auf der Straße“, das Frauen im allgemeinen ein eher defensives und auf Kommunikation bedachtes Redeverhalten haben, hatten wir Senta Trömel Plötz’ Untersuchungen zum Gesprächsverhalten von akademischen Gesprächsrunden zu verdanken und das die Vermarktung weiblicher Körper in der Werbung wegen der damit verbundenen Reduzierungen und Verdinglichungen frauenfeindlich war, wußten wir alle.

8.
erste Trennungslinien und Konfliktfelder: die pc – Frage und wer sie beanspruchen kann, ihre Auswirkungen auf uns

Zumindest mehr oder weniger. Es stellte sich nämlich ziemlich schnell heraus, daß eine wichtige studentische Gruppe, die sich „Konstruktive Linke“ nannte und damals überwiegend die Orientierungsphase an unserer Fakultät organisierte, eine etwas andere Wahrnehmung zur political correctness hatte: anläßlich einer Ausstellung zu Sexismus in der Werbung im besetzten Raum lachten einige der Herren der KL so laut, daß sich ein paar Frauen gestört fühlten. Wir als Kollabskollektiv mußten Stellung beziehen – und das taten wir, indem wir für die Frauen eintraten. Die KL machte also Stimmung gegen uns und das hatte zur Folge, daß nur die ohnehin etwas neugierigeren und gesellschaftskritischen Erstsemester ihren Fuß über unsere Tür zu setzen wagten. Die Besetzung war also jetzt deutlich nicht mehr ein Massenphänomen, sondern ein eigenes Projekt, was sich auch daran zeigte, das die Wirtschaftswissenschaften Studierenden nur sehr ausnahmsweise mal einen Fuß über unsere Tür setzten.

Diese Entwicklung hatten wir als AK Anarchismus nicht vorausgesehen, waren wir selbst doch eine recht gemischte Gruppe und trugen unsere Widersprüche unter uns aus, so gut es eben ging. Der Projektcharakter des Kollabs führte aber auch bei unserer Gruppe zu Abwanderungen.

Der helle Stern des Kollabs begann dann bald zur Normalität zu werden. Die allermeisten Studierenden nahmen es achselzuckend zur Kenntnis und fügten sich wieder in die tumbe Trennung von Lern- und Privatsphäre, wie sie die spezielle Göttinger Mischung aus ländlicher Herkunft der Studierenden und elitär - autoritären Erziehungsidealen der Lehrenden ausmacht, und, wie sie auch durch die Verwaltung damals verstärkt wurde: Reformen in Richtung auf mehr Kundenfreundlichkeit, wie sie in Dienstleistungsunternehmen wie Post und Bahn und an anderen Universitäten selbstverständlich gewesen waren, hatten die Göttinger Uni in den uns betreffenden Bereichen nicht erreicht. Vermutlich lag das an dem ortspezifischen Filz von Personalräten, Parteien und Verwaltung. – Noch viele Jahre später, bis in dieses Jahrtausend hinein, zierte das Sekretariat des Soziologischen Seminars ein bollwerkähnliches Pult, das die armen Sekretärinnen vor den vermutlich bösen, verdorbenen und kranken Studenten zu schützen hatte ... oder waren die Göttinger Studenten vielleicht zu aufdringlich?

Innere Grenzen
Die von der Konstruktiven Linken erstmals sichtbar gemachten Grenzen dieses Raumes wurden von den Vertretern des „Social Works“, die sich auch als regelmäßige und am Geschehen rege beteiligte Gäste im Kollabs aufhielten, verstärkt in Richtung auf Duldung nichtstudentischer Menschen aus der Bevölkerung verschoben. So konnte es passieren, daß eine widerlich stinkende Nichtseßhafte mit ihren regelmäßigen Besuchen das Kollabs über Monate hinweg lahmlegte, weil sie sich keinesfalls an unseren ermahnenden Reden in ihre Richtung störte und wir keinen Konsens in der Frage fanden, wie mit ihr nun umzugehen sei. Dieser Konflikt stellte sich als Grundproblem der etwa zehnjährigen Existenz dieses studentischen Projekts dar.

9.
die BenutzerInnen und der Kompromiß zur allgemeinen Offenheit

Wie bereits erwähnt, herrscht in der Göttinger Studentenszene eine zwar jugendbewegte, aber in ihren Mikrokosmen unglaublich dogmatische und repressive Atmosphäre vor. Stärker als in Großstädten müssen hier die studentischen Kleinkreise als Familienersatz herhalten, ist der Kontakt zu den Herkunftmilieus wegen der großen Entfernungen nach Zuhause doch nur mit erheblichem Aufwand zu halten. Konsequenterweise werden grundlegende Moralvorstellungen deshalb stärker eingebracht, und, gerade im Gegensatz zu den hier üblichen Verhaltensweisen, bedeutete das für uns, daß wir das "Offensein für Jedermann" sehr stark betonten.

Die Tücherfrau – so nannten wir „unsere“ Nichtseßhafte, weil sie Kopf und Haar immer mit zahlreichen Tüchern umwickelte – verschwand jedoch eines Tages im Frühsommer in Richtung Klinikum. Wir atmeten auf, und allmählich wagte auch das eine oder andere junge Gesicht wieder seine Füße über „unsere“ Schwelle zu setzen, zumal uns zu Ohren kam, daß unser duftender Gast von seinen kriechenden Peinigern befreit worden war – wie uns bezeichnenderweise von befreundeten Zivildienstleistenden des Universitätsklinikums gesteckt wurde. Im weiteren Fortgang dann kam es zu einer stärkeren Formalisierung der Abläufe im Kollabs. Der Betrieb wurde nach rationalen Gesichtspunkten organisiert, es wurde versucht, das Kollabs als Auseinandersetzungsforum interessanter zumachen, indem verschiedene Veranstaltungen abgehalten und diverse Gruppen ihre Termine in diesen Raum verlegten.

Ein Neuanfang
Wir begannen also zu planen. Ein freundlicher Frühsommer ist in Göttingen dazu immer eine gute Jahreszeit und wir beschlossen eine grundlegende Renovierung und Umgestaltung des Raumes. Er sollte heller und durchlässiger werden, wir hatten die düstere und miefige Sofakultur satt, es sollten sich auch neue Leute bei uns wohlfühlen können, ohne gleich „den Raum heiraten“ zu müssen.

Im Verlauf des Sommersemesters begann sich also eine neue Gruppe herauszuschälen, zu der auch einige junge und sehr tatkräftige Frauen gehörten. Ein wichtiges Faktum, hatten wir doch nun die lange Durststrecke der Sommersemesterferien vor uns und die Frage der Kontinuität des jugendlich – studentischen Zusammenhangs mußte auch auf einer mehr gefühlsmäßigen Ebene beantwortet werden können. Es zeichnete sich also ein guter und fester Zusammenhang ab.

10.
die zweite Umgestaltung und Renovierung nach vier Jahren, die Herausbildung der endgültigen NutzerInnenstruktur nach fünf Jahren (1999).

Wir Älteren begannen mit dem Groß Reinemachen, brachten Sofas und Sessel auf die Müllkippe und besorgten Stühle und Tische. In einer wochenlangen Anstrengung gelang es uns, dem Raum ein neues Gesicht zu geben. Er wurde heller und transparenter und man konnte die wöchentliche Reinemache an der Spiegelung des Lichts auf dem Fußboden immer gut erkennen. Immerhin krempelte selbst Rita Süssmut einmal die Ärmel hoch, als wir das Kollabs an einem Wochenende als Rückzugsraum eines ihrer Blockseminare anboten.

11.
das Kollabs als Informationspool

Die sich nun neu konstituierenden Gruppen, die das Kollabs mehr und mehr benutzten und sich zu eigen machten, hielten bis zum Schluß. Da waren einmal die Neuen, überwiegend Anfangssemester, die sich im wesentlichen über einen Wohnzusammenhang kennengelernt hatten. Eine lustige Truppe, die sich unter anderem auch mit ihren unkonventionellen Hausparties einen Namen machte und zu der erstmals auch Kommilitonen aus den neuen Bundesländern zählten. Dann gab es einen relativ festen Zusammenhang von Examinierten, die an ihrer Dissertation schrieben und mit einer Reihe ebenfalls höhersemestriger Koreaner befreundet waren. Sie bildeten die „Philosophenrunde“. Über diese beiden „Gruppenzusammenhänge“ hinaus gab es eine ganze Reihe von Einzelpersonen, die das Kollabs ebenfalls sehr regelmäßig besuchten. Da waren zum einen die Menschen aus dem social work, dann Leute, die, obwohl früher Studierende gewesen, jetzt feste Jobs hatten oder sich in einer der zahlreichen Dienstleistungsnischen der Stadt Göttingen eingerichtet hatten. Sie boten immer interessanten Austausch über Jobmöglichkeiten. Als letztes diejenigen, die das Kollabs einfach als Pausenraum oder als Kennenlernforum nutzten.

Im Verlauf des nun folgenden Wintersemesters stellte sich aber heraus, daß ein Raum wie das Kollabs als "allgemeines Kennenlernforum" auch in der nun neuen und „kundenfreundlicheren“ Aufmachung für die jüngeren KommilitonInnen zu enge Grenzen setzte und die Orgaarbeit dann doch wieder nur an zwei bis drei Personen hängenblieb.

12.
Und wieder: wer macht die Arbeit? - unsere neuen Eingebundenheiten in der Fachschafts-arbeit

Der Neubeginn dieser Semester zeigte über die Aushandlungsprozesse der Benutzung des Raumes stärker auch die Grenzen dieses Projekts. Ansprüche jedenfalls, die unklar blieben, obwohl sie offen artikuliert worden waren, ließen sich nun im allgemeinen Konsens leichter zurückweisen, wovon besonders das social work betroffen war. Allmählich hatte sich auch der AK Anarchismus aufgelöst und die das Kollabs tragenden Zusammenhänge waren eine enge Verbindung zu den Personen eingegangen, die den studentischen Fachschaftsrat Sozialwissenschaften stellten.

13.
der professorale Druck zur Institutionalisierung kommt als professoraler Versuch der eigenen Risikoabsicherung daher

In dieser Situation wollte sich der Dekan des Fachbereichs absichern und vielleicht auch als Folge von Druck "von oben" - das sind in Göttingen die Hausmeister, die sich über das Kollabs beklagt hatten - mehr Transparenz und "persönlich Verantwortliche" für den Betrieb des Kollabs. Er forderte von uns ultimativ und mit Rückendeckung des Fakultätsrats eine Erklärung, daß wir für die Sicherheit in dem Raum aufkommen sollten und für das Geschehen dort die Verantwortung zu übernehmen hätten. Da es sich beim Kollabs rechtlich jedoch um eine Art Teeküche handelte, ließ sich die Sicherheitsfrage auf unserer Seite nur als Goodwill Erklärung lösen. Das Kollabs war kein kommerziell geführter Betrieb. In dieser Situation gelang es uns, dem Dekan einen Vertrag abzuhandeln, in dem er uns den Raum (mit halbjährlicher Kündigung) überließ.

Der aus den Ansprüchen der Professoren und der Sicherheitsleute entstehende Konflikt zog sich über mehrere Jahre hin. Er zeichnete sich vor allem dadurch aus, daß die Professoren ihre Argumente und Intentionen nie klar darstellten. In unseren Augen waren sie damit unglaubwürdig und wir hatten den Verdacht, daß sie wegen unseres Erscheinungsbildes von den konservativen Betriebswirten gedrängt wurden, gegen uns Front zu machen. - SozialwissenschaftlerInnen, die die berühmte "Dialektik von Form und Inhalt" nicht mehr auf ihre eigene Umgebung anwenden konnten oder wollten - oder sich nun endlich einmal den braven und vorzeigbaren Betriebswirten anpassen wollten ... einfach lächerlich!

So verlegten wir uns aufs Verhandeln. Schon bald stellte sich heraus, daß die oberen Chargen der Verwaltung uns durchaus wohlgesonnen waren – Kundenfreundlichkeit war für sie offenbar kein Fremdwort mehr und das Göttinger postnazistische Erziehungsideal der sechziger Jahre hatte sich wohl auch in ihren Augen allmählich überlebt. Es gelang uns, einen Raum im Keller zu bekommen und auch nach den Wünschen der Verwaltung herzurichten. Alles in Butter, hätte man nun sagen können.

14.
der Zusammenbruch unserer Infrastruktur als Folge der Durchsetzung einer neuen Studentengeneration

Aber wir hatten die Rechung ohne die nun auch neuen Politniks unter den Studierenden gemacht. Es stellte sich nämlich heraus, daß sie einen großen Teil des Kollabs belegten und mit unsicheren Holzkonstruktionen und Transparenten anfüllten. Eine Cafekonzeption, die auf Transparenz, Überschaubarkeit und Leistungsfähigkeit in Bezug auf den kommunikativen Charakter des Raums angelegt gewesen wäre, ließ sich nicht mehr durchsetzen. Der Attraktionswert des Sitzens, Chillens und Kennenlernens konnte in den neuen und nun beengten räumlichen Verhältnissen nicht mehr zum Tragen kommen. Selbst die regelmäßigen BesucherInnen verstanden den Kern des Konflikts nicht: Das Cafe hätte – wie früher – dank seiner Beliebtheit soviele Menschen an sich heranziehen müssen, daß daraus leicht ein Kern von Verantwortlichkeiten für seine Existenz und seinen Betrieb hätte entwickelt werden können. Dafür hätte aber der gesamte Raum offensiv genutzt und durch Veranstaltungs- und Werbeaktionen bekanntgemacht werden können müssen.

Unsere neuen Politniks fühlten sich dafür aber nicht mehr verantwortlich, obwohl gerade sie einen offensiven Kollabsbetrieb durch die starre Belegung eines Drittels des Raumes verhinderten. Es stellte sich heraus, daß eine neue Generation von Studenten „die Macht übernommen“ hatte. Eine Generation, die sich erst wieder „ihre“ Freiräume schaffen musste, „ihre“ moralischen Standards setzen. Bezeichnenderweise entwickelte sich der Bruch an einem Artikel im Fachschaftsinfo für die Erstsemester, in dem es um die Darstellung der faktischen Möglichkeiten der Kontaktanknüpfung (eher) für die Studierenden männlichen Geschlechts ging, eines Artikels, der mehr die Normalbiographie ins Zentrum stellte und damit die tatsächlichen Verhältnisse zu brutal und offen darstellte. Die neuen Kommilitoninnen brauchten jedoch ihre eigenes generationelles Profil. Und das kam als moralische Anforderung daher. – Mittlerweile sind auch sie im Rahmen der Normalbiographie fortgeschritten: Sie „haben“ Kinder und Examen oder zumindest eines von beidem. Ihre Möglichkeiten zu „persönlicher Initiative“ sind mittlerweile auch stark eingeschränkt.

So fanden sich logischerweise für die Anmahnungen aus den Sicherheitsbereichen der Verwaltung auch keine Ansprechpartner im Kollabs mehr und diejenigen, die einer Brandschutzschulung aufgeschlossen gegenüberstanden, konnten sich nicht mehr genug artikulieren. Wie dann das Feuer letzlich entstanden ist, das alles in allem vermutlich an die zehn Millionen Euro Schaden verursachte, wird nicht mehr zu klären sein.

Ein paar Vermutungen lassen sich jedoch nur schwer widerlegen, weil sie sich gut aus der Struktur des Systems begründen. Da ist zum einen der gnadenlos unterbezahlte Securitymann, der den Brand zu einem sehr frühen Zeitpunkt entdeckte, als er noch mit wenig Aufwand lokalisiert und möglicherweise mit dem bereitstehenden Feuerlöscher bekämpft hätte werden können. Aber der betrachtete das – für 5,50 Euro die Stunde - nicht als seine Aufgabe. Zum Zweiten haben sich die uralten und nicht mehr zeitgemäßen Verkabelungen der elektrischen Anlagen dieses Gebäudes als Unsicherheitsfaktor herausgestellt. Drittens hatte der im Keller stehende Colaautomat bereits drei Monate zuvor einen kleinen Brand erzeugt, der der Verwaltung aber wohl nicht als so bedeutend erschien, daß sie den Automat ersetzt oder gar beseitigt hätte. Viertens erschreckt der Zeitpunkt des Ausbruchs des Brandes: Es war der letzte Tag der Vorlesungszeit, das Gebäude war fast menschenleer und die drei Monate der vorlesungsfreien Zeit standen an. Wenn jemand ein Feuer hätte legen wollen – und wer hätte wohl bei der herrschenden Gesetzeslage davon am meisten profitiert? – wäre dieser Abend jedenfalls günstig gewesen. Offen bleibt aber die Frage der AuftragsgeberInnen und Ausführenden. Fünftens hat auch die Uni Göttingen - wie jede andere große Institution – ihre Randexistenzen, Menschen, die zu tausenden von dieser Institution um ihre Zukunftshoffnungen gebracht werden, die alleingelassen werden und von denen es einigen sicherlich sehr schwer fällt, ihren Weg in ein neues Leben zu finden ...